Entscheidung

Entscheidung Nr. 2011-131 QPC vom 20. Mai 2011

Frau Térésa C. und andere [Wahrheitsbeweis bei ehrenrührigen Behauptungen, deren zugrundeliegender Sachverhalt über zehn Jahre zurückliegt]

Der Verfassungsrat ist am 21. März 2011 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 1707 vom 15. März 2011) bezüglich einer von Frau Térésa C. und Herrn Maurice D. erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des fünften Absatzes von Artikel 35 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

DER VERFASSUNGSRAT,

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit, geändert insbesondere durch die gesetzesvertretende Verordnung vom 6. Mai 1944 über die Ahndung von Pressestraftaten;

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

Unter Bezugnahme auf die für die Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Normand und Partner, Anwälte der Rechtsanwaltskammer von Paris, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 15. April 2011;

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 15. April 2011;

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

Nachdem Herr RA Christophe Bigot, Anwalt der Rechtsanwaltskammer von Paris, für Frau C., Herr RA Renaud Le Gunehec für Herrn D. und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2011 gehört worden sind;

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

  1. In Erwägung dessen, dass gemäß dem fünften Absatz von Artikel 35 des oben genannten Gesetzes vom 29. Juli 1881, die Wahrheit einer ehrenrührigen Behauptung jederzeit nachgewiesen werden darf, außer „wenn der Sachverhalt, der Gegenstand der Bezichtigung ist, mehr als zehn Jahre zurückliegt“;

  2. In Erwägung dessen, dass der Antragsteller vorträgt, die Meinungsfreiheit und die Rechte der Verteidigung seien dadurch verletzt, dass es dem der üblen Nachrede Beschuldigten nicht erlaubt sei, die Wahrheit von mehr als zehn Jahre zurückliegenden behaupteten Tatsachen nachzuweisen;

  3. In Erwägung dessen, dass Artikel 11 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 bestimmt: „Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen“; dass die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit ein sehr hohes Gut darstellt, da sie eine Voraussetzung der Demokratie und eine der Gewährleistungen zur Durchsetzung der anderen Rechte und Freiheiten ist; dass die Eingriffe in dieses Grundrecht in Bezug auf das verfolgte Ziel notwendig, geeignet und verhältnismäßig sein müssen;

  4. In Erwägung dessen, dass der Artikel 35 des oben genannten Gesetzes vom 29. Juli 1881 die Fälle aufführt, in denen ein der üblen Nachrede Beschuldigter die Beschuldigung zurückweisen kann, indem er die Wahrheit seiner Behauptung nachweist; dass die Absätze 3 bis 6 dieses Artikels insbesondere bestimmen, dass die Wahrheit der ehrenrührigen behaupteten Tatsache stets nachgewiesen werden darf, außer wenn ein Fall das Privatleben einer Person betrifft, wenn der Gegenstand der Behauptung mehr als zehn Jahre zurückliegt, oder wenn die Behauptung sich auf einen Sachverhalt bezieht, der amnestiert oder verjährt ist oder zu einer Verurteilung geführt hat, deren Straffolgen im Rahmen einer Rehabilitation oder einer Wiederaufnahme des Verfahrens getilgt wurden;

  5. In Erwägung dessen, dass der fünfte Absatz von Artikel 35 durch das Verbot, den Wahrheitsbeweis ehrenrühriger Behauptungen bezüglich eines mehr als zehn Jahre zurückliegenden Sachverhalts zu erbringen, vermeiden will, dass unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit alte Tatsachen, welche die Ehre oder das Ansehen der betroffenen Personen verletzen, in Erinnerung gerufen werden; dass der sich daraus ergebende Eingriff in die Meinungsfreiheit ein Ziel von Allgemeininteresse verfolgt, nämlich die Wahrung des sozialen Friedens;

  6. In Erwägung dessen, dass dieses Verbot jedoch ohne Unterscheidung auch alle Äußerungen und Schriftstücke betrifft, die das Ergebnis historischer und wissenschaftlicher Forschung sind, ebenso wie alle Behauptungen, die sich auf Ereignisse beziehen, deren Erörterung Teil einer öffentlichen Debatte von Allgemeininteresse ist, sofern sie Tatsachen zum Gegenstand haben, die mehr als zehn Jahre zurückliegen; dass dieses Verbot aufgrund seiner allgemeinen und unbedingten Art einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellt; dass es daher Artikel 11 der Erklärung von 1789 verletzt;

  7. In Erwägung dessen, dass infolgedessen, und ohne dass eine Prüfung der anderen Rüge geboten ist, der fünfte Absatz von Artikel 35 des oben genannten Gesetzes vom 29. Juli 1881 für verfassungswidrig erklärt werden muss; dass die Verfassungswidrigkeitserklärung auf alle zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung noch nicht rechtskräftig abgeurteilten ehrenrührigen Äußerungen anwendbar ist,

ENTSCHEIDET:

Artikel 1 - Der fünfte Absatz von Artikel 35 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 über die Pressefreiheit wird für verfassungswidrig erklärt.

Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird ab der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung gemäß den in der Erwägung Nr. 7 festgelegten Voraussetzungen wirksam.

Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 19. Mai 2011, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

Veröffentlicht am 20. Mai 2011.

Les abstracts

  • 4. DROITS ET LIBERTÉS
  • 4.16. LIBERTÉ D'EXPRESSION ET DE COMMUNICATION
  • 4.16.1. Principes
  • 4.16.1.2. Portée de cette liberté
  • 4.16.1.2.1. Liberté fondamentale

La liberté d'expression et de communication est d'autant plus précieuse que son exercice est une condition de la démocratie et l'une des garanties du respect des autres droits et libertés. Les atteintes portées à l'exercice de cette liberté doivent être nécessaires, adaptées et proportionnées à l'objectif poursuivi.

(2011-131 QPC, 20 Mai 2011, cons. 3, Journal officiel du 20 mai 2011, page 8890, texte n° 83)
  • 4. DROITS ET LIBERTÉS
  • 4.16. LIBERTÉ D'EXPRESSION ET DE COMMUNICATION
  • 4.16.2. Liberté d'expression et de communication (hors des médias)
  • 4.16.2.1. Liberté individuelle de parler, écrire et imprimer librement

L'article 35 de la loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse définit les cas dans lesquels une personne poursuivie pour diffamation peut s'exonérer de toute responsabilité en établissant la preuve du fait diffamatoire. Les alinéas 3 à 6 de cet article disposent en particulier que la vérité des faits diffamatoires peut toujours être prouvée sauf lorsque l'imputation concerne la vie privée de la personne et lorsqu'elle se réfère à des faits qui remontent à plus de dix années ou à un fait constituant une infraction amnistiée ou prescrite, ou qui a donné lieu à une condamnation effacée par la réhabilitation ou la révision.
En interdisant de rapporter la preuve des faits diffamatoires lorsque l'imputation se réfère à des faits qui remontent à plus de dix ans, le cinquième alinéa de l'article 35 a pour objet d'éviter que la liberté d'expression ne conduise à rappeler des faits anciens portant atteinte à l'honneur et à la considération des personnes qu'elles visent. La restriction à la liberté d'expression qui en résulte poursuit un objectif d'intérêt général de recherche de la paix sociale.
Toutefois, cette interdiction vise sans distinction, dès lors qu'ils se réfèrent à des faits qui remontent à plus de dix ans, tous les propos ou écrits résultant de travaux historiques ou scientifiques ainsi que les imputations se référant à des événements dont le rappel ou le commentaire s'inscrivent dans un débat public d'intérêt général. Par son caractère général et absolu, cette interdiction porte à la liberté d'expression une atteinte qui n'est pas proportionnée au but poursuivi. Ainsi, elle méconnaît l'article 11 de la Déclaration de 1789. Censure.

(2011-131 QPC, 20 Mai 2011, cons. 4, 5, 6, Journal officiel du 20 mai 2011, page 8890, texte n° 83)
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