Entscheidung Nr. 2018-744 QPC vom 16. November 2018
Der Verfassungsrat ist am 11. September 2018 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 2090 vom selben Tage) bezüglich einer vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden. Die Frage wurde für Frau Murielle B. von der Rechtsanwaltskanzlei Piwnica und Molinié, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, erhoben. Sie wurde unter dem Aktenzeichen Nr. 2018-744 QPC beim Generalsekretariat des Verfassungsrates eingetragen. Die Frage hat die Vereinbarkeit der Artikel 1, 5, 7, 8, 9 und 10 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 45-174 vom 2. Februar 1945 über straffällige Jugendliche „in der 1984, zum Zeitpunkt der Tat geltenden Fassung“ mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand.
Unter Bezugnahme auf die nachfolgenden Rechtsnormen:
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die Verfassung;
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die gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;
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die Strafprozessordnung;
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die gesetzesvertretende Verordnung Nr. 45-174 vom 2. Februar 1945 über straffällige Jugendliche;
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das Gesetz Nr. 51-687 vom 24. Mai 1951 zur Änderung der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 45-174 vom 2. Februar 1945 über straffällige Jugendliche;
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das Gesetz Nr. 74-631 vom 5. Juli 1974 zur Festsetzung des Eintritts der Volljährigkeit auf das Alter von achtzehn Jahren;
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die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit.
Unter Bezugnahme auf die nachfolgenden Verfahrensunterlagen:
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die für Frau B. von der Rechtsanwaltskanzlei Piwnica und Molinié eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 28. September und am 17. Oktober 2018;
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die für Herrn Jean-Marie V. und Frau Christine V. geb. B., beklagte Partei im Ausgangsverfahren, von der Rechtsanwaltskanzlei Waquet, Farge, Hazan, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwälte, eingereichte Stellungnahme, eingetragen am 3. Oktober 2018;
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die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 3. Oktober 2018;
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die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen.
Nachdem Herr RA Emmanuel Piwnica, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassener Anwalt, für die Antragstellerin, Frau RAin Claire Waquet, beim Staatsrat und beim Kassationsgerichtshof zugelassene Anwältin, für die beklagte Partei im Ausgangsverfahren und Herr Philippe Blanc, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2018 gehört worden sind.
Unter Bezugnahme auf die weiteren nachfolgenden Verfahrensunterlagen:
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der im Rahmen der Beratung des Verfassungsrates vom Premierminister vorgelegte Schriftsatz, eingetragen am 29. Oktober 2018;
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der im Rahmen der Beratung des Verfassungsrates von der Rechtsanwaltskanzlei Piwnica und Molinié für die Antragstellerin vorgelegte Schriftsatz, eingetragen am 31. Oktober 2018.
Und nachdem der Berichterstatter gehört worden ist:
AUFGRUND DER NACHFOLGENDEN ERWÄGUNGEN:
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Die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit ist als in Bezug auf die im Rechtsstreit, in dessen Rahmen sie erhoben wurde, anwendbaren Vorschriften gestellt anzusehen. Daher ist der Verfassungsrat angerufen bezüglich der Artikel 1, 5, 7, 8 und 9 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 5. Juli 1974, sowie bezüglich des Artikels 10 derselben gesetzesvertretenden Verordnung in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 24. Mai 1951.
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Der Artikel 1 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der genannten Fassung bestimmt:
„Strafverfahren gegen Minderjährige, die einer als Vergehen oder Verbrechen qualifizierten strafbaren Handlung beschuldigt werden, werden nicht vor den ordentlichen Strafgerichten durchgeführt, sondern unterliegen der Zuständigkeit der Jugendgerichte beziehungsweise der Schwurgerichte für Minderjährige.
„Verfahren gegen Minderjährige wegen Übertretungen fünfter Klasse werden vor den in Kinderstrafsachen zuständigen Gerichten durchgeführt, gemäß den von Artikel 20-1 vorgesehenen Voraussetzungen“. -
Der Artikel 5 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der genannten Fassung sieht vor:
„Ohne Voruntersuchungen ist bei Verbrechen die Strafverfolgung von Minderjährigen nicht zulässig.
„Bei Vergehen ruft der Oberstaatsanwalt entweder den Ermittlungsrichter oder, durch Antrag, den Jugendrichter und, in Paris, den Vorsitzenden des Jugendgerichtes an.
„In keinem Fall darf gegenüber einem Minderjährigen das Verfahren für auf frischer Tat Ergriffene oder das Verfahren der unmittelbaren Versetzung in den Anklagezustand angewendet werden“. -
Der Artikel 7 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der genannten Fassung bestimmt:
„Zuständig für die Strafverfolgung von Verbrechen und Vergehen, die von Minderjährigen begangen wurden, ist der Oberstaatsanwalt beim Gericht, an dem das Jugendgericht seinen Sitz hat.
„Jedoch dürfen der in den Fällen gemäß den Artikeln 43 und 696 der Strafprozessordnung zuständige Oberstaatsanwalt und der gemäß den Vorschriften von Artikel 72 der Strafprozessordnung von diesem angerufene oder von Amts wegen handelnde Ermittlungsrichter dringliche Verfolgungs- oder Ermittlungsmaßnahmen anordnen, wobei sie verpflichtet sind, den Oberstaatsanwalt beim Gericht, an dem das Jugendgericht seinen Sitz hat, unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen und das Verfahren in kürzester Frist abzugeben.
„Ist der Minderjährige in derselben Strafsache wie einer oder mehrere Volljährige beteiligt, werden die im vorstehenden Absatz genannten dringlichen Strafverfolgungs- und Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt. Führt der Oberstaatsanwalt gegen die beteiligten Volljährigen ein Verfahren für auf frischer Tat Ergriffene oder das Verfahren der unmittelbaren Versetzung in den Anklagezustand durch, legt er eine gesonderte Akte über den beteiligten Minderjährigen an und übermittelt diese dem Oberstaatsanwalt beim Gericht, an dem das Jugendgericht seinen Sitz hat. Wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, gibt der Ermittlungsrichter in kürzester Frist das Verfahren sowohl in Bezug auf den Minderjährigen als auch auf die volljährigen Beschuldigten an den Ermittlungsrichter des Gerichtes ab, an dem das Jugendgericht seinen Sitz hat“. -
Der Artikel 8 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der genannten Fassung sieht vor:
„Der Jugendrichter führt alle sachdienlichen Maßnahmen und Ermittlungen zur Feststellung der Wahrheit und zur besseren Kenntnis der Persönlichkeit des Minderjährigen, sowie zur Ermittlung der geeigneten Mittel für dessen Wiedereingliederung durch.
Zu diesem Zweck führt er entweder inoffiziell oder in der von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung vorgesehenen Form eine Untersuchung durch. In letztgenanntem Fall ist er nicht durch die Vorschriften der Artikel 114, 116 (Absatz 1) und 118 der Strafprozessordnung gebunden.
„Vorbehaltlich der Bestimmungen von Artikel 11, kann der Jugendrichter unter Befolgung der Vorschriften des allgemeinen Rechts alle notwendigen Haftbefehle oder gerichtlichen Anordnungen erlassen.
„Mittels eines Gutachtens über das soziale Umfeld des Jugendlichen holt er Informationen über die materiellen und sittlichen Lebensverhältnisse der Familie, den Charakter und die Vorgeschichte des Jugendlichen, dessen Schulbesuch und Verhalten in der Schule, sowie über die Verhältnisse, in denen er aufgewachsen und erzogen wurde, ein.
„Der Jugendrichter ordnet eine ärztliche Untersuchung und, sofern erforderlich, eine medizinisch-psychologische Begutachtung an. Er kann gegebenenfalls die Unterbringung des Jugendlichen in einer Aufnahme- oder Beobachtungseinrichtung anweisen.
„Im Interesse des Jugendlichen darf er jedoch von der Anordnung der genannten Maßnahmen absehen oder nur eine von ihnen anordnen. In einem solchen Fall erlässt er eine mit Gründen versehene richterliche Verfügung.
„Nach Abschluss der sachdienlichen Ermittlungen kann der Jugendrichter von Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Akte an die Staatsanwaltschaft übermitteln.
„Anschließend kann er:
„1o durch richterliche Verfügung den Minderjährigen an das Jugendgericht oder, falls erforderlich, den Ermittlungsrichter überweisen;
„2o durch Urteil unter Ausschluss der Öffentlichkeit den Minderjährigen freisprechen, wenn die Straftat nicht erwiesen ist, den Minderjährigen ermahnen oder ihn dessen Eltern, Vormund oder Sorgeberechtigten oder einer vertrauenswürdigen Person übergeben und, wenn erforderlich, anordnen, den Jugendlichen bis zum Erreichen eines festgelegten Alters, höchstens jedoch bis zum Erreichen der Volljährigkeit, der Aufsicht eines Jugendrichters zu unterstellen.
„Vor der Entscheidung in der Sache kann der Jugendrichter diese Aufsicht vorläufig anordnen, und anschließend nach Ablauf einer oder mehrerer von ihm festgesetzten Bewährungszeiten entscheiden“.
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Der Artikel 9 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der genannten Fassung bestimmt:
„Im Verfahren wendet der Ermittlungsrichter gegenüber dem Minderjährigen die Formvorschriften von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung an und erlässt die Maßnahmen nach den Artikeln 4, 5, 6 und 8 dieser gesetzesvertretenden Verordnung.
„Nach Abschluss der Ermittlungen erlässt der Ermittlungsrichter nach Anträgen des Oberstaatsanwaltes eine der folgenden richterlichen Verfügungen über:
„1o Entweder die Einstellung des Verfahrens;
„2o Oder, wenn er die strafbare Handlung als Übertretung einordnet, die Verweisung an das Strafgericht für Bagatellsachen beziehungsweise, bei Übertretungen fünfter Klasse, an den Jugendrichter oder das Jugendgericht;
„3o Oder, wenn er die strafbare Handlung als Vergehen einordnet, die Verweisung an den Jugendrichter oder das Jugendgericht;
„4o Bei Verbrechen, entweder die Verweisung an das Jugendgericht, wenn der Minderjährige unter sechzehn Jahren alt ist, oder, im in Artikel 20 genannten Fall, die Übermittlung der Akten an den zuständigen Oberstaatsanwalt gemäß Artikel 181 der Strafprozessordnung.
„Hatte der Minderjährige volljährige Mittäter oder Gehilfen bei seiner Tat, werden diese, bei Strafverfolgung wegen eines Vergehens, dem nach den allgemeinrechtlichen Vorschriften zuständigen Gericht überwiesen; der den Jugendlichen betreffende Sachverhalt wird von dem Verfahren abgetrennt und gemäß den Vorschriften dieser gesetzesvertretenden Verordnung abgeurteilt. Bei Strafverfolgung wegen eines Verbrechens ist in Bezug auf alle Beschuldigten gemäß den Vorschriften von Artikel 181 der Strafprozessordnung zu verfahren; die Anklagekammer kann entweder den Fall aller mindestens sechzehn Jahre alten Beschuldigten an das Schwurgericht verweisen oder die Strafverfolgung der volljährigen Beschuldigten von diesem Verfahren abtrennen und deren Fall an das ordentliche Schwurgericht verweisen; der Fall der Minderjährigen unter sechzehn Jahren wird dann an das Jugendgericht verwiesen.
„Das Urteil wird gemäß den dafür allgemeinen vorgesehenen Vorschriften abgefasst.
„Wird der Fall an das Schwurgericht für Minderjährige verwiesen, kann die Anklagekammer eine Verfügung zur Verhaftung der angeklagten Minderjährigen erlassen“. -
Der Artikel 10 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 in der genannten Fassung sieht vor:
„Der Jugendrichter und der Ermittlungsrichter setzen die Eltern, den Vormund oder den Sorgeberechtigten des Minderjährigen, sofern bekannt, von den Strafverfolgungsmaßnahmen in Kenntnis. Wird von dem Minderjährigen oder dessen gesetzlichen Vertreter kein Rechtsbeistand benannt, bestellen der Jugendrichter und der Ermittlungsrichter einen Pflichtverteidiger oder lassen vom Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer einen solchen bestellen. Wurde der Minderjährige als Kriegswaise anerkannt oder hat er einen Anspruch auf eine solche Anerkennung, unterrichten sie unverzüglich den Vorsitzenden des ständigen Ausschusses des Amtes für Kriegswaisen in dem Departement von den Strafverfolgungsmaßnahmen.
„Sie können die Sozialdienste oder diesbezüglich berechtigte diplomierte Sozialarbeiter mit dem Gutachten über das soziale Umfeld des Minderjährigen betrauen.
„Der Jugendrichter und der Ermittlungsrichter können den Minderjährigen vorübergehend der Obhut der folgenden Personen oder Einrichtungen anvertrauen:
„1o den Eltern, dem Vormund oder dem Sorgeberechtigten des Minderjährigen oder einer vertrauenswürdigen Person;
„2o einer Aufnahmeeinrichtung;
„3o der Aufnahmeabteilung einer staatlich anerkannten öffentlichen oder privaten Einrichtung;
„4o dem Jugendamt oder einer Krankenhauseinrichtung;
„5o einer anerkannten Erziehungs-, Ausbildungs- oder Pflegeanstalt des Staates oder einer öffentlichen Behörde.
„Halten der Jugendrichter und der Ermittlungsrichter eine eingehendere Beobachtung des Minderjährigen für angezeigt, können sie dessen vorübergehende Unterbringung in einer vom Justizministerium geschaffenen oder anerkannten Beobachtungseinrichtung anordnen.
„Während der vorläufigen Unterbringung kann der Minderjährige gegebenenfalls unter Aufsicht gestellt werden.
„Die Verfügung über die Obhut kann jederzeit widerrufen werden“. -
Die Antragstellerin behauptet, die vorgenannten Bestimmungen verstießen gegen die von den Artikeln 9 und 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 geschützte Unschuldsvermutung und geschützten Rechte der Verteidigung, sowie gegen den wesentlichen, von den Gesetzen der Republik im Bereich des Jugendstrafrechts anerkannten Grundsatz, da sie es erlaubten, einen Minderjährigen im Rahmen von Ermittlungen in Gewahrsam zu nehmen, ohne dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz von dessen Rechten gewährleistet seien, insbesondere betreffend den Beistand durch einen Rechtsanwalt, die Belehrung über das Recht zu schweigen und die Benachrichtigung des gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen.
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Infolgedessen hat die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit die Worte „oder in der von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung vorgesehenen Form“ aus Artikel 8, Absatz 2, Satz 1 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 sowie die Worte „wendet […] gegenüber dem Minderjährigen die Formvorschriften von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung an und“ aus Artikel 9, Absatz 1 derselben gesetzesvertretenden Verordnung zum Gegenstand.
- In der Sache:
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Der Artikel 7 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte bestimmt: „Jeder Mensch darf nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in den Formen, die es vorschreibt, angeklagt, verhaftet und gefangengehalten werden. Diejenigen, die willkürliche Befehle verlangen, ausfertigen, ausführen oder ausführen lassen, sollen bestraft werden. Doch jeder Bürger, der auf Grund des Gesetzes vorgeladen oder ergriffen wird, muss sofort gehorchen. Er macht sich durch Widerstand strafbar“. Artikel 9 der Erklärung lautet: „Da jeder Mensch so lange für unschuldig gehalten wird, bis er für schuldig erklärt worden ist, soll, wenn seine Verhaftung für unumgänglich erachtet wird, jede Härte, die nicht notwendig ist, um sich seiner Person zu versichern, durch Gesetz streng vermieden sein“. Artikel 16 der Erklärung verkündet: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“.
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Es obliegt dem Gesetzgeber, einerseits die zum Schutz verfassungsrechtlicher Rechte und Grundsätze unerlässliche Fahndung nach Straftätern und andererseits den Schutz der von der Verfassung verbürgten Rechte und Freiheiten miteinander in Einklang zu bringen. Zu Letzteren zählt der von Artikel 16 der Erklärung von 1789 gebotene Schutz der Rechte der Verteidigung und die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Artikel 9 der Erklärung von 1789.
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Sowohl die Einschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Minderjähriger aufgrund ihres Alters, als auch die Notwendigkeit, straffällige Kinder und Jugendliche durch an ihr Alter und ihre Persönlichkeit angepasste Maßnahmen, welche von einem ausschließlich für sie zuständigen Gericht oder nach ihnen angemessenen Verfahrensregeln angeordnet werden, erzieherisch und sittlich wieder aufzurichten, sind seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts beständig von den Gesetzen der Republik anerkannt worden. Diese Grundsätze finden ihren Ausdruck insbesondere in den Gesetzen vom 12. April 1906 über die Strafmündigkeit Minderjähriger und vom 22. Juli 1912 über die Gerichte in Kinder- und Jugendstrafsachen, sowie in der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 über straffällige Jugendliche. Allerdings schreibt die republikanische Gesetzgebung vor Inkrafttreten der Verfassung von 1946 keine Regel fest, nach der auf Zwangsmaßnahmen oder Sanktionen immer zugunsten ausschließlich erzieherischer Maßnahmen zu verzichten sei. Insbesondere lehnten die ursprünglichen Bestimmungen der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 die strafrechtliche Verantwortlichkeit Minderjähriger nicht ab und schlossen auch nicht die Möglichkeit aus, bei Bedarf gegenüber Minderjährigen Maßnahmen wie Unterbringung, Aufsicht, Haft oder, bei Minderjährigen über dreizehn Jahren, Freiheitsstrafen zu verhängen. Dies ist der Umfang des wesentlichen Grundsatzes, welcher im Bereich des Jugendstrafrechts von den Gesetzen der Republik anerkannt ist.
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Gemäß den angegriffenen Vorschriften des Artikels 8 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 führt der Jugendrichter, wenn er vom Oberstaatsanwalt wegen der Ermittlung strafbarer Handlungen angerufen wird, die von Minderjährigen begangen wurden, in der von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung vorgesehenen Form eine Untersuchung durch. Nach den angegriffenen Bestimmungen des Artikels 9 derselben gesetzesvertretenden Verordnung führt er gemäß denselben Formen eine Untersuchung durch, wenn der Sachverhalt die Begehung eines Verbrechens oder eines Vergehens durch einen Minderjährigen betrifft.
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Gemäß dem in einem solchen Fall anwendbaren Artikel 154 der Strafprozessordnung, der zum Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 gehört, darf der zuständige höhere Kriminalbeamte im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens eine in Gewahrsam genommene Person für eine Dauer von bis zu vierundzwanzig Stunden festhalten und muss sie nach Ablauf dieser Frist einem Ermittlungsrichter vorführen. Der Polizeigewahrsam kann auf Verfügung dieses Ermittlungsrichters hin um eine Dauer von zusätzlichen vierundzwanzig Stunden verlängert werden. Artikel 64 der Strafprozessordnung, auf den der Artikel 154 verweist, sieht vor, dass die festgehaltene Person im Falle einer Verlängerung des Polizeigewahrsams das Recht auf eine ärztliche Untersuchung hat.
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Allerdings sahen zum einen die Rechtsvorschriften in ihrer damals geltenden Fassung keine gesetzlichen Gewährleistungen zum Schutz der Rechte, insbesondere der Rechte der Verteidigung, der festgehaltenen Person vor, gleichgültig ob es sich dabei um einen Volljährigen handelte oder nicht. Zum anderen hatte keine gesetzliche Bestimmung ein Schutzalter festgelegt, unterhalb dessen ein Minderjähriger nicht in Polizeigewahrsam genommen werden durfte.
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Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass die angegriffenen Bestimmungen es erlaubten, jede Art von Minderjährigen für eine einmalig um dieselbe Zeitspanne verlängerbare Dauer von vierundzwanzig Stunden in Polizeigewahrsam zu nehmen, und dem Minderjährigen dabei als einziges Recht einräumten, im Falle einer Verlängerung der Maßnahme eine ärztliche Untersuchung zu erhalten. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber zum einen die unerlässliche Fahndung nach Straftätern und den Schutz der von der Verfassung verbürgten Rechte und Freiheiten nicht in ausgeglichener Weise miteinander in Einklang gebracht und hat damit gegen die Artikel 9 und 16 der Erklärung von 1789 verstoßen. Zum anderen hat er mit den angegriffenen Bestimmungen auch den wesentlichen, von den Gesetzen der Republik im Bereich des Jugendstrafrechts anerkannten Grundsatz verletzt.
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Infolgedessen müssen die Worte „oder in der von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung vorgesehenen Form“ aus Artikel 8, Absatz 2, Satz 1 der gesetzesvertretenden Verordnung vom 2. Februar 1945 sowie die Worte „wendet […] gegenüber dem Minderjährigen die Formvorschriften von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung an und“ aus Artikel 9, Absatz 1 derselben gesetzesvertretenden Verordnung für verfassungswidrig erklärt werden.
- Über die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeitserklärung:
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Artikel 62 Absatz 2 der Verfassung bestimmt: „Eine gemäß Artikel 61-1 für verfassungswidrig erklärte Bestimmung ist ab der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsrates oder zu einem in dieser Entscheidung festgesetzten späteren Zeitpunkt aufgehoben. Der Verfassungsrat bestimmt die Bedingungen und Grenzen einer möglichen Anfechtung der Folgen der betreffenden Bestimmung“. Grundsätzlich soll die Partei, welche die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit erhoben hat, einen Vorteil aus der Verfassungswidrigkeitserklärung erlangen und darf die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsrates anhängigen Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden. Die Vorschrift des Artikels 62 der Verfassung behält dem Verfassungsrat allerdings vor, den Zeitpunkt festzulegen, an dem die Aufhebung der verfassungswidrigen Norm eintritt, und zu bestimmen, ob und auf welche Art und Weise Rechtsfolgen angefochten werden können, die vor der Verfassungswidrigkeitserklärung auf der Grundlage der verfassungswidrigen Vorschrift eingetreten sind.
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Es liegen im vorliegenden Fall keine Gründe vor, die einen Aufschub des Wirksamwerdens der Verfassungswidrigkeitserklärung rechtfertigen würden. Daher wird diese Verfassungswidrigkeitserklärung mit der Veröffentlichung der vorliegenden Entscheidung wirksam. Sie ist in Bezug auf alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahren wirksam.
DER VERFASSUNGSRAT ENTSCHEIDET:
Artikel 1 - Die Worte „oder in der von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung vorgesehenen Form“ aus Artikel 8, Absatz 2, Satz 1 sowie die Worte „wendet […] gegenüber dem Minderjährigen die Formvorschriften von Kapitel 1 von Titel III des Buches 1 der Strafprozessordnung an und“ aus Artikel 9, Absatz 1 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 45-174 vom 2. Februar 1945 über straffällige Jugendliche in der Fassung des Gesetzes Nr. 74-631 vom 5. Juli 1974 zur Festsetzung des Eintritts der Volljährigkeit auf das Alter von achtzehn Jahren sind verfassungswidrig.
Artikel 2 - Die in Artikel 1 ausgesprochene Verfassungswidrigkeitserklärung wird gemäß den in Nr. 19 der vorliegenden Entscheidung festgelegten Voraussetzungen wirksam.
Artikel 3 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.
Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 15. November 2018, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Laurent FABIUS, Präsident, Claire BAZY MALAURIE, Jean-Jacques HYEST, Lionel JOSPIN, Dominique LOTTIN, Nicole MAESTRACCI und Michel PINAULT.
Veröffentlicht am 16. November 2018.
Les abstracts
- 4. DROITS ET LIBERTÉS
- 4.23. PRINCIPES DE DROIT PÉNAL ET DE PROCÉDURE PÉNALE
- 4.23.6. Justice pénale des mineurs
- 4.23.6.2. Contrôle des mesures propres à la justice pénale des mineurs
- 4.23.6.2.3. Contrôle sur le fondement du principe fondamental
4.23.6.2.3.2. Autres dispositions
Les dispositions contestées permettent à un officier de police judiciaire de retenir une personne à sa disposition vingt-quatre heures, délai à l'issue duquel la personne doit être conduite devant le magistrat instructeur. La garde à vue peut être prolongée, sur décision de ce magistrat, pour une durée de vingt-quatre heures. La personne gardée à vue bénéficie du droit d'obtenir un examen médical en cas de prolongation de la mesure.
Cependant, d'une part, l'état du droit alors en vigueur ne prévoit aucune autre garantie légale afin d'assurer le respect des droits, notamment ceux de la défense, de la personne gardée à vue, majeure ou non. D'autre part, aucune disposition législative ne prévoit un âge en dessous duquel un mineur ne peut être placé en garde à vue.
Il résulte de ce qui précède que les dispositions contestées permettent que tout mineur soit placé en garde à vue pour une durée de vingt-quatre heures renouvelable avec comme seul droit celui d'obtenir un examen médical en cas de prolongation de la mesure. Dès lors, le législateur a contrevenu au principe fondamental reconnu par les lois de la République en matière de justice des mineurs.
- 4. DROITS ET LIBERTÉS
- 4.23. PRINCIPES DE DROIT PÉNAL ET DE PROCÉDURE PÉNALE
- 4.23.9. Respect des droits de la défense, droit à un procès équitable et droit à un recours juridictionnel effectif en matière pénale
- 4.23.9.6. Dispositions relevant de la procédure d'enquête et d'instruction
4.23.9.6.2. Garde à vue
Les dispositions contestées permettent à un officier de police judiciaire de retenir une personne à sa disposition vingt-quatre heures, délai à l'issue duquel la personne doit être conduite devant le magistrat instructeur. La garde à vue peut être prolongée, sur décision de ce magistrat, pour une durée de vingt-quatre heures. La personne gardée à vue bénéficie du droit d'obtenir un examen médical en cas de prolongation de la mesure.
Cependant, d'une part, l'état du droit alors en vigueur ne prévoit aucune autre garantie légale afin d'assurer le respect des droits, notamment ceux de la défense, de la personne gardée à vue, majeure ou non. D'autre part, aucune disposition législative ne prévoit un âge en dessous duquel un mineur ne peut être placé en garde à vue.
Il résulte de ce qui précède que les dispositions contestées permettent que tout mineur soit placé en garde à vue pour une durée de vingt-quatre heures renouvelable avec comme seul droit celui d'obtenir un examen médical en cas de prolongation de la mesure. Dès lors, le législateur, qui n'a pas assuré une conciliation équilibrée entre la recherche des auteurs d'infractions et l'exercice des libertés constitutionnellement garanties, a méconnu les articles 9 et 16 de la Déclaration de 1789.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.6. QUESTION PRIORITAIRE DE CONSTITUTIONNALITÉ
- 11.6.3. Procédure applicable devant le Conseil constitutionnel
- 11.6.3.5. Détermination de la disposition soumise au Conseil constitutionnel
11.6.3.5.1. Délimitation plus étroite de la disposition législative soumise au Conseil constitutionnel
Saisi des articles 1er, 5, 7, 8, 9 et 10 de l'ordonnance n° 45-174 du 2 février 1945 relative à l'enfance délinquante, le Conseil constitutionnel juge que la question prioritaire de constitutionnalité porte sur les mots « soit dans les formes prévues par le chapitre 1er du titre III du livre 1er du code de procédure pénale » figurant à la première phrase du deuxième alinéa de l'article 8 et sur les mots « procédera à l'égard du mineur dans les formes du chapitre 1er du titre III du livre 1er du code de procédure pénale et » figurant au premier alinéa de l'article 9.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.6. QUESTION PRIORITAIRE DE CONSTITUTIONNALITÉ
- 11.6.3. Procédure applicable devant le Conseil constitutionnel
- 11.6.3.5. Détermination de la disposition soumise au Conseil constitutionnel
11.6.3.5.2. Détermination de la version de la disposition législative soumise au Conseil constitutionnel
Saisi des articles 1er, 5, 7, 8, 9 et 10 de l'ordonnance n° 45-174 du 2 février 1945 relative à l'enfance délinquante « dans leur rédaction en vigueur en 1984, à l'époque des faits », le Conseil constitutionnel procède à la détermination de la version applicable au litige de ces dispositions. Il juge ainsi être saisi des articles 1er, 5, 7, 8 et 9 dans leur rédaction résultant de la loi n° 74-631 du 5 juillet 1974 et de l'article 10 de la même ordonnance dans sa rédaction résultant de la loi n° 51-687 du 24 mai 1951.
Saisi des articles 1er, 5, 7, 8, 9 et 10 de l'ordonnance n° 45-174 du 2 février 1945 relative à l'enfance délinquante « dans leur rédaction en vigueur en 1984, à l'époque des faits », le Conseil constitutionnel procède à la détermination de la version applicable au litige de ces dispositions. Il juge ainsi être saisi des articles 1er, 5, 7, 8 et 9 dans leur rédaction résultant de la loi n° 74-631 du 5 juillet 1974 et de l'article 10 de la même ordonnance dans sa rédaction résultant de la loi n° 51-687 du 24 mai 1951.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
- 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
- 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
- 11.8.6.2.2. Abrogation
11.8.6.2.2.1. Abrogation à la date de la publication de la décision
En l'espèce, aucun motif ne justifie de reporter la prise d'effet de la déclaration d'inconstitutionnalité des mots mots « soit dans les formes prévues par le chapitre 1er du titre III du livre 1er du code de procédure pénale » figurant à la première phrase du deuxième alinéa de l'article 8 et des mots « procédera à l'égard du mineur dans les formes du chapitre 1er du titre III du livre 1er du code de procédure pénale et » figurant au premier alinéa de l'article 9 de l'ordonnance n° 45-174 du 2 février 1945 relative à l'enfance délinquante, dans leur rédaction résultant de la loi n° 74-631 du 5 juillet 1974 fixant à dix-huit ans l'âge de la majorité.
- 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
- 11.8. SENS ET PORTÉE DE LA DÉCISION
- 11.8.6. Portée des décisions dans le temps
- 11.8.6.2. Dans le cadre d'un contrôle a posteriori (article 61-1)
- 11.8.6.2.4. Effets produits par la disposition abrogée
- 11.8.6.2.4.2. Remise en cause des effets
11.8.6.2.4.2.1. Pour les instances en cours ou en cours et à venir
En l'espèce, aucun motif ne justifie de reporter la prise d'effet de la déclaration d'inconstitutionnalité des mots mots « soit dans les formes prévues par le chapitre 1er du titre III du livre 1er du code de procédure pénale » figurant à la première phrase du deuxième alinéa de l'article 8 et des mots « procédera à l'égard du mineur dans les formes du chapitre 1er du titre III du livre 1er du code de procédure pénale et » figurant au premier alinéa de l'article 9 de l'ordonnance n° 45-174 du 2 février 1945 relative à l'enfance délinquante, dans leur rédaction résultant de la loi n° 74-631 du 5 juillet 1974 fixant à dix-huit ans l'âge de la majorité. Celle-ci intervient donc à compter de la date de la publication de la présente décision. Elle est applicable à toutes les affaires non jugées définitivement à cette date.